Stockfotografien gehören heute ganz selbstverständlich zum Visualisierungsrepertoire des zeitgenössischen Journalismus. Wie schwierig der Umgang damit ist und wie schnell problematische Kontextualisierungen entstehen, zeigt ein Beispiel von FOCUS Online.
Unter dem Titel „Mutter klagt an: Mein Sohn wurde schon vor dem 1. Schultag aussortiert“ veröffentlichte FOCUS Online am 22. Januar 2012 in der Rubrik Eltern, die in Kooperation mit „netmoms“ betrieben wird, ein Interview mit einer Mutter Namens Sandra. Es geht um Sandras Sohn, dem wegen vermeintlicher „Unbeschulbarkeit“ die Einschulung verweigert wurde. Eingeleitet wird der Text von einem Bild der Agentur Ableimages im Vertrieb von Getty Images, das am linken Bildrand einen Jungen im roten Pullover zeigt, der sich an eine Wand von Schließfächern lehnt. Die Schließfächer laufen nach hinten rechts zu und enden in Unschärfe an einer Tür.
Die Art und Weise, wie das Bild zwischen Überschrift und Interviewtext als Aufmacher platziert wurde, verleitet dazu, in dem abgebildeten Jungen Sandras Sohn zu sehen. Verstärkt wird dies durch den psychosozialen Kontext, auf den etwa im Zitat „Er funktioniert unter Druck nicht“ in der Dachzeile Bezug genommen wird, und der mit dem Blick und Gesichtsausdruck des Jungen im roten Pullover korrespondiert: Nachdenklich bis in sich gekehrt blickt er gerade aus. Darüber hinaus wird er ohne weitere Kinder alleine ins Bild gesetzt.
Nur eine Recherche des Ausgangsmaterials kann klären, ob es sich um Sandras Sohn oder einen beliebigen Jungen handelt, auch wenn die Agenturnamen bereits auf die zweite Hypothese hindeuten. Es ist jedoch davon auszugehen, dass vielen Medienkonsument*innen die Bedeutung der Namen nicht bekannt ist. Zu finden ist das Bild bei iStock, der Stockfoto-Agentur von Getty Images. Dort ist das Bild unter dem Stichwort „Schulkind“ zu finden. Es ist Teil einer Serie mit weiteren Bildern, die den Jungen in ähnlichen Posen und Situationen zeigt und im Jahr 2011 hochgeladen wurde.
Die Quelle iStock sowie die Kontextinformationen und Lizensierungsformen des Bildes bestätigen, dass es sich um eine Stockfotografie handelt. Die ist laut Definition zeit- und ortlos, was bedeutet, dass Namen des Jungen und Ort der Aufnahme keine Rolle spielen. Bei dem Jungen handelt es sich also vermutlich um ein Model, das für diese Aufnahme bezahlt wurde. Zu welch beliebigen Einsatzformen dies führen kann, fördert eine Google-Bildersuche zu Tage. So verwendete die BBC das gleiche Bild in einem über 1,5 Jahre alten Text über autistische Kinder mit der Bildunterschrift „Repeated exclusion can be very distressing for autistic children and their families“.
Grundsätzlich ist das Nutzen von Stockmaterial im Journalismus auf mehrere Gründe zurückzuführen. Da ist – vor allem Online – der Zwang zur Bebilderung. Dazu kommen geringe Ressourcen die es etwa verhindern, ein Porträt von Sandras Sohn anfertigen zu lassen. Dazu kommen – wie in diesem Fall – Fragen der Anonymität und der Bildrechte. All dies lässt sich durch den Einsatz von Stockfotografie umgehen. Ohne diese jedoch von redaktioneller Seite als solche zu kontextualisieren und mit dem Hinweis „Symbolfoto“ oder einer aussagekräftigen Bildunterschrift zu versehen, entsteht der falsche Eindruck, auf dem Bild wäre Sandras Sohn zu sehen.