Auf der einen Seite stellen landesweite Wahlen wie die Bundestagswahl aufgrund ihrer Struktur Routineereignisse im Journalismus dar. Auf der anderen Seite hat jede Wahl ihre eigene Dynamik hinsichtlich Umfragen, Kandidat*innen und politischer Themensetzung. Wie deutsche Tageszeitungen am Tag nach der Bundestagswahl 2021 das Ergebnis auf ihren Titelseiten in Szene setzten, analysiert Dr. Felix Koltermann.
Nach dem Ende der sechzehnjährigen Kanzlerschafft von Angela Merkel und der CDU war die Bundestagswahl 2021 von besonderem gesellschaftlichen Interesse. Zum ersten Mal in der Geschichte trat ein*e Altkanzler*in nicht wieder an und stellten neben den beiden großen Volksparteien CDU und SPD auch die Grünen mit Annalena Baerbock eine Kanzlerkandidatin auf. Für diese Analyse wurden drei überregionale Zeitungen, die Frankfurter Allgemeine Zeitung, die Süddeutsche Zeitung und die Tageszeitung untersucht. Daneben wurden sechs regionale Zeitungen aus vier Bundesländern, darunter die Frankfurter Rundschau, die Hannoversche Allgemeine, die Nahe-Zeitung, die Neue Presse, die Saarbrücker Zeitung sowie der Trierische Volksfreund untersucht. Bei FAZ, SZ und FR wurden die Andruckausgaben untersucht, nicht die später gedruckten aktualisierten Cover.
Für die gedruckten Ausgaben der Tageszeitungen bestand die Herausforderung darin, dass die Verkündigung des Wahlergebnisses mit dem Redaktionsschluss für die gedruckten Ausgaben kollidierte. So sind erste Prognosen über das Ergebnis des Wahlausgangs erst ab 18:00 Uhr nach Schließung der Wahllokale verfügbar sowie deren Kommunikation und Öffentlichmachung legal erlaubt. Die genaueren Hochrechnungen die auf der ersten Auszählung der abgegebenen Stimmen basieren, gibt es dagegen meist ab 20:00 Uhr. Damit ist zu erklären, warum die Tageszeitungen je nach Redaktionsschluss so unterschiedlich auf das Ereignis reagierten, die überregionalen Tageszeitungen zum Teil eine Andruckversion sowie ein aktualisiertes Cover veröffentlichten und warum nur die regionalen Tageszeitungen aufgrund kürzerer Distributionswege und damit einem später möglichen Redaktionsschluss aktuellere Ergebnisse und Bilder aus den ersten Pressekonferenzen der großen Parteien veröffentlichen konnten.
Die Süddeutsche Zeitung entschied sich in der Andruckversion dafür, auf der oberen Hälfte der Titelseite zwei quadratische Fotos der Spitzenkandidaten der CDU (Armin Laschet) und der SPD (Olaf Scholz) bei der Stimmabgabe in ihrem jeweiligen Wahllokal zu zeigen. Während Scholz alleine auf dem Bild ist, steht neben Laschet seine Ehefrau. Die Bilder stammen von Action Press und dpa. Die FAZ hingegen wählte eine abstrakte Form der Visualisierung und platzierte unter der Überschrift ihres Leitartikels „Schwere Verluste für die Unionsparteien“ eine Fotografie, auf der eine Person in einem Berliner Wahllokal zu sehen ist, die mit gekreuzten Füßen vor einem Tisch sitzt, während ein kleiner Hund sich am Stuhl hochzieht. Dies wurde ironisch mit der Bildunterschrift „wenigstens gab es für Herrchen einen Stimmzettel“ kommentiert. Das Bild stammt von Jens Gyarmaty.
Einen völlig anderen Weg als die beiden großen überregionalen Tageszeitungen ging die kleine Berliner taz. Sie platzierte auf der oberen Seitenhälfte einen freigestellten blauen Baby-Strampler mit der rechts daneben platzierten Überschrift „Es ist ein Junge“. Die Bildunterschrift lautet „Schwere Geburt: Ob der nächste Kanzler Olaf oder Armin heißen wird, war bei Redaktionsschluss noch offen“. Ohne auf die Ergebnisse des Wahlabends selbst einzugehen, für die auf die Webseite taz.de verwiesen wird, nimmt die taz unabhängig von den genauen Ergebnissen darauf Bezug, dass egal ob mit Scholz oder Laschet, nach Angela Merkel jetzt ein Mann das Kanzleramt führen wird. Dies wird über das Geburtsthema konsequent in Bild, BU und Überschrift umgesetzt.
Die einzige regionale Tageszeitung unter den untersuchten, die ebenfalls kein Bild der Pressekonferenzen des Wahlabends auf die Titelseite hob, war die Frankfurter Rundschau. Sie platzierte ein über die gesamte Seitenbreite gezogenes Foto von Olaf Scholz bei einer Pressekonferenz. Im Bild wurde die Frage „Wende?“ als Überschrift platziert, versehen mit der Information, dass die SPD nach oben zieht aber offen ist, wer Angela Merkel beerbt. Die Bildunterschrift „Das Kalkül des Kanzlerkandidaten Olaf Scholz geht auf. Die SPD ist zurück an der Spitze“ verweist auf das Wahlergebnis, gibt jedoch keinen Hinweis darauf wo und wann das Bild aufgenommen wurde.
Die anderen fünf Lokalzeitungen entschieden sich jeweils für eine Kombination zweier Fotografien von Olaf Scholz und Armin Laschet bei Pressekonferenzen am Wahlabend, die dadurch gekennzeichnet sind, dass im Hintergrund jeweils die Parteifarben Rot und Blau sowie Teile des Logos zu sehen sind. Ihrer politischen Einordnung gemäß wurde jeweils Scholz links und Laschet rechts platziert. Die gewählten Fotografien unterscheiden sich zum einen hinsichtlich ihres Ausschnitts, der zwischen Querformat, Quadrat, Hochformat und extremem Hochformat variiert, sowie des gewählten Moments. Wobei der Trierische Volksfreund sich im Gegensatz zu den anderen vier dafür entschied, die Bilder unterhalb der Falz zu platzieren, um auf dem oberen Seitenteil die Ergebnisse der Hochrechnung von 19:59 Uhr zu zeigen.
Die gezeigten Bilder von Scholz und Laschet stammen entweder von AP, AFP, dpa oder Imago. Sehr unterschiedlich ist der Umgang mit dem Fotograf*innennamen. So verzichten die Nahe-Zeitung, die Neue Presse und der Trierische Volksfreund komplett auf die Nennung der Fotograf*innennamen. Einzig die Saarbrücker Zeitung nennt die Fotograf*innenamen beider Bilder. Die Hannoversche Allgemeine ergänzt nur beim Bild der Agentur AP den Namen der Fotografin, lässt diesen beim Bild von Imago Images hingegen weg.
Was den Motivcharakter der Bilder des Wahlabends angeht, so sind die winkende Geste sowie das lächelnde Gesicht der Kanzlerkandidat innen prägend. Inhaltlich geht es bei den Bildern des Wahlabends somit damit allein darum, der Informationsfunktion nachzukommen und die Kandidaten im Rennen um das Kanzleramt visuell in Szene zu setzen. Die kreativen Lösungen der drei überregionalen Zeitungen sind hingegen zum einen dem Problem des Redaktionsschlusses, zum anderen wie im Fall von FAZ und taz einer besonderen Logik der Titelseitengestaltung geschuldet.
Text: Dr. Felix Koltermann
*Der Text wurde nach einem Hinweis aus einer Redaktion dahingehend aktualisiert, dass bei einigen Zeitungen eine Andruckversion und spätere aktuellere Cover existieren. Auf die Unterschiede wird demnächst in einem anderen Text eingegangen.