Deutsche Zeitungscover zu den Protesten am 19.11. in Berlin

Es passiert höchst selten, dass eine Reihe von Tageszeitungen das gleiche Ereignis mit einer Fotografie auf die Titelseite hebt. So geschah es jedoch am 19.11.2020 bei den Protesten in Berlin gegen die Verabschiedung des Infektionsschutzgesetzes durch den Bundestag. Wie genau sechs deutsche Tageszeitungen dies umgesetzt haben, analysiert Dr. Felix Koltermann in seiner Blattkritik.

Es war eine Eskalation mit Ansage, die Proteste der Querdenken-Bewegung am 19.11.2020 in Berlin vor dem Reichstag gegen die Verabschiedung des Infektionsschutzgesetzes und das Vorgehen der Polizei mit Wasserwerfern gegen die Demonstrant*innen. Schon am Vortag wurde in den Medien und Politik breit spekuliert, was passieren würde. Grund hierfür war der Sturm auf die Reichstagstreppe von Demonstrant*innen Ende August und die Angst, dass sich ähnliches wiederholen würde. Genug Zeit also in den Redaktionen, sich auf das Ereignis vorzubereiten. In der folgenden Analyse geht es konkret um die Bildauswahl der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ), der Jungen Welt (JW), der Neuen Presse (NP), der Süddeutschen Zeitung (SZ), der tageszeitung (taz) und der WELT zu diesem Ereignis. 

Die für die Titelseiten ausgewählten Fotografien zeigen allesamt Szenen, die in einem relativ ähnlichen Zeithorizont auf recht begrenztem geografischen Raum zwischen Brandenburger Tor und Reichstag fotografiert wurden. Dies wird etwa daran deutlich, dass ein Polizist mit der gleichen Erkennungsmarke auf drei Bildern auftaucht. Mit Ausnahme der taz griffen alle Medien auf Fotografien der Agenturen Associated Press (AP), Deutsche Presse Agentur (dpa), European Pressphoto Agency (EPA) und Reuters zurück. Aus inhaltlicher Perspektive sind zwei Gruppen von Bildern prominent: Demonstrant*innen hinter einer Polizeikette mit dem Brandenburger Tor im Hintergrund und Demonstrant*innen unter Wasserwerferbeschuß mit dem Reichstag im Hintergrund. Nur die junge welt fokussiert auf eine einzelne Person unter den Demonstrant*innen. 

Zwei Redaktionen – und zwar die der Süddeutschen Zeitung und der Neuen Presse aus Hannover – entschieden sich für das gleiche Bild von Christoph Soeder von der Deutschen Presse Agentur. Aufgrund der unterschiedlichen Umsetzung, verschiedener dazu platzierter Überschriften und anderer Bildbearbeitung fällt dies jedoch nicht direkt ins Auge. Die Version der SZ ist wesentlich dunkler als die der Neuen Presse. Bei der SZ sind im Hintergrund noch Details des Reichtags erkennbar, die in der NP in einem hellen weißen Fleck ausfressen. Darüber hinaus legt die NP über den oberen Bildrand einen dunklen Schatten, um darin die Überschrift zu platzieren. Die Unterschiede sind auf unterschiedliche digitale Bearbeitungen des Bildes zurückzuführen.

Quelle: Eigene Darstellung

Auffällig sind auch die unterschiedlichen Strategien der Zeitungen, mit Text im Bild umzugehen. In unterschiedlicher Variante findet sich dieses Gestaltungselement bei WELT, jw, taz und NP. Während bei der WELT geschickt die Bildunterschrift auf dem Wasserwerfer im linken Bildrand platziert wird, setzen JW, NP und taz die Überschriften groß ins Bild, zum Teil auch die BU wie bei der NP oder die Teaser wie bei JW und taz. Die NP greift dafür auch direkt ins Bild ein, in dem oben an der Fotografie ein schwarzer Balken angefügt wird, wo die Überschrift platziert wurde, was streng genommen eine – nicht kenntlich gemachte – Bildmanipulation ist. Die Entscheidung, die Überschriften im Bild zu platzieren muss dabei als eine gestalterische Strategie gelesen werden, die über den aktuellen Fall hinaus geht und ein Verfahren umschreibt, das Bild als Fläche zu sehen auf der Text platziert werden kann. 

Die am stärksten irritierende Titelseite stammt von der taz, die kommentierende Covergestaltungen mittlerweile zum Alleinstellungsmerkmal ausgebaut hat. Während die anderen Zeitungen ihre Titel mit Bezug zu den drei Themen Proteste, Corona und Infektionsschutzgesetz wählten, nahm die taz einen anderen Fokus. Sie titelte „Schwere Unruhen in Berlin nach historischer Niederlage der Nationalmannschaft“, verbunden mit folgendem Teaser: „Wenige Stunden nach dem 0:6 in Spanien versammeln sich Tausende im Regierungsviertel und verbreiten Verschwörungstheorien. Polizei setzt Wasserwerfer ein. Große Koalition beschließt Sofortmaßnahmen“. Einen Bezug zwischen der Niederlage der DFB 11 und den Protesten herzustellen, mag zwar der anti-nationalen Weltanschauung der taz entsprechen, ist journalistisch aber hart an der Grenze des Machbaren, ist es doch sachlich falsch und eine durchaus fragwürdige Praxis. 

Insgesamt wird durch die Analyse der sechs Titelseiten klar, dass es zwar sechsmal das gleiche Ereignis ist, was als Aufmacher fungiert, die vermittelten Botschaften bzw. die Einordnung durchaus divergieren. Diese Unterschiede liegen dabei nur zu kleinen Teilen im Bild begründet, wie etwa bei in dem in der jw über das Bild hergestellten Bezug zum Christentum, sondern vornehmlich an der Art der textlichen Kontextualisierung, was bei der taz am deutlichsten hervorscheint. Hier scheinen unterschiedliche Formen des „Framings“ (Rahmung) des Ereignisses durch, die vor allem aus redaktionellen Leitlinien sowie der gesellschaftspolitischen Orientierung der Blätter zu erklären sind. Dass es überhaupt zu einer so ähnlichen Bildauswahl kam, ist mit der Bedeutung des Ereignisses und der anhaltenden  Debatte darüber im politischen und öffentlichen Diskurs zu erklären.